“Prozess um Sprache”. Ulrike Draesner im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Bernard Banoun

Bernard BanounSorbonne Université
Paru le : 21.07.2018
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„Prozess um Sprache“.

Ulrike Draesner im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Bernard Banoun

 

Bernard Banoun : Liebe Ulrike Draesner, ich freue mich über die Gelegenheit Ihres Aufenthaltes in Paris,[1]um ein Interview mit Ihnen für die Zeitschrift Mémoires en jeu/Memories at Stake zu führen. Diese seit 2016 bestehende  Zeitschrift beschreibt sich als « kritische interdisziplinäre und multikulturelle Zeitschrift über die Herausforderungen, die mit dem Gedächtnis verbunden sind. Das Projekt entstand unter anderem aus der Feststellung heraus, dass Gedächtnis heutzutage immer wieder heraufbeschworen wird, aber die „Gedächtnisse“ immer weniger „geteilt“ werden, sondern eher immer neue Mauern, „geopolitische und geistige Grenzen“ entstehen lassen. Eines der Ziele der Herausgeber ist es, den Austausch zu fördern und eine „gegenseitige Bereicherung“ in Bewegung zu setzen. Kurz, um den Arbeitstitel einer der Hauptfiguren Ihres Romans, über den wir uns unterhalten werden, zu verwenden: es handelt sich auch hier um „shared memory“.

Unser Gespräch wird sich vor allem auf Ihren 2014 veröffentlichten Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt beziehen.[2]Möchten Sie den Roman kurz vorstellen?

Ulrike Draesner:Der Roman spannt sich über das gesamte 20. Jahrhundert und erzählt ein wesentliches Stück mittel- und osteuropäischer Geschichte. Die älteste Figur ist 1892 geboren, die jüngste 1996, es sprechen neun Ich-Erzähler. Die Fragestellung, um die sich alles dreht, lautet: Wie wirkt Migration bzw. Zwangsmigration auf die Betroffenen und ihre Kindeskinder, wie wirkt, was in der Folge des 2. Weltkrieges geschah, über Generationen hinweg?

BB: Sie sind Autorin eines umfangreichen Werkes: Lyrik, Essays, Erzählungen, Romane. Es sieht aber so aus, als würde dieser Roman eine neue Zeit in Ihrem Schaffen eröffnen. Inwiefern stimmt das? Inwiefern stimmt das nicht?

UD: Ich versuche, mich mit jedem meiner Texte weiter zu bewegen. Inhalt und Form sind für mich nicht getrennt erfahrbar oder denkbar, was bedeutet, dass ich mit jedem Roman auch eine neue Form erfinden muss, weil immer ein anderes Thema gegeben ist. In meinem Erzählwerk gibt es für mich im Grunde zwei Stränge. Der eine umfasst, was man Liebes- oder Dekadenromane nennen könnte. Mitgiftund Vorliebehandeln von den 90er bzw. Nullerjahren in Deutschland. Sie sind Gesellschaftsporträts. Der andere Strang betrifft den historischen Roman, wobei die Bedeutung des Wortes „historisch“ sich mit jedem der Romane verschiebt. Der erste der Reihe war der Roman Spieleaus dem Jahr 2005 mit Bezug auf das Olympiaattentat 1972 in München. Der zweite ist Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Insofern gibt es Kontinuität, zum anderen ist dieser Roman in seinem erzählerischen Ansatz radikaler als die anderen. Die Ich-Perspektive, die ihn bestimmt, liegt mir nicht nahe, sie ist tückisch und verführerisch zugleich. Der Roman lebt, zumindest dort, wo die Geschichte der deutschen Familie Grolmann erzählt wird, von biographischem Material aus meiner Vaterfamilie, und ich musste erst lernen, mein eigenes Ich einigermaßen, wenn auch nicht ganz, aus dem Weg zu räumen, um in den neun fremden, mir unterschiedlich nahen Ichs sprechen zu können. Schon sehr früh, beim Konzipieren und in den ersten Versuchen, diesen Roman zu schreiben, wurde mir deutlich, dass ich in zahlreichen Ich-Perspektiven würde schreiben müssen, um die Uneinholbarkeit des geschichtlichen Materials, das Oszillieren der Erinnerungen nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch im Verlauf ihrer einzelnen Leben, abzubilden. So ist der Roman mit seinen jungen und alten, männlichen und weiblichen, polnischen und deutschen Stimmen, die sich dachziegelartig ineinanderschieben, überlagern und widersprechen, auch erzählerisch ein Neuaufbruch.

BB: Es gibt also, wie Sie gerade sagten, mehrere Stimmen. Es handelt sich um das Vergessen und auch darum, selbst den Stummen eine Stimme zu verleihen, sie sprechen zu lassen und das in dem Kontext zweier Familien, einer deutschen und einer polnischen, die beide „zwischen“ den Ländern, „polnisch und deutsch, hybrid“ sind. Wie funktioniert die Phantasie, um solche Figuren zu verkörpern?

UD:Vergessen und erinnern klingt zunächst nach zwei schön voneinander abgegrenzten Vorgängen, als hätten wir hier das, woran wir uns erinnern, dann eine Lücke und daneben quasi all jenes, was wir vergessen haben. Mich interessieren vor allem die Zwischenbereiche, denn die schöne Zweiteilung ist eine Chimäre. Es gibt Dinge, die wir erinnern, aber nicht aussprechen können; Dinge, die wir so vergessen haben, dass wir sogar vergessen haben, sie vergessen zu haben; Dinge, die wir halb erinnern, da wir uns immerhin daran erinnern, sie vergessen zu haben, zum Beispiel wenn einem ein Name nicht einfällt. Was für eine Art von Vergessen ist das? Eines, das eine Schale hinterlässt, eine merkliche Leerstelle. Ist etwas vollständig vergessen, gibt es diese Lücke nicht. Oder gibt es sie, und wir bemerken sie nicht? Wir wissen, dass Dinge, die im Bewusstsein vergessen sind, noch lange nicht aus allen Schichten dieses Bewusstseins oder aus dem Körper gelöscht sind. Die Figuren des Romans fragen sich, woher ihnen unerklärliche Ängste kommen, wie Erfahrungen zwischen den Generationen auch nonverbal weitergegeben werden, wie Gefühle und Traumatisierungen der einen Generation sich in Symptomen wie Lähmungen oder Schmerzen bei der nächsten Generation ausdrücken können. Phantomschmerzen sind Formen von körperlichem Gedächtnis. Die literarische Arbeit begann bei der Frage, wie die eben angesprochenen Phänomene, die heute u. a. unter den Begriffen ‚Postmemory‘ oder ‚transgenerationelle Traumatisierung‘ diskutiert werden, sich in Sprache übersetzen lassen.

Dieses In-Sprache-Übersetzen bestimmt mein gesamtes literarisches Werk, inklusive der Poesie, also die Frage danach, wie ich das, was im Alltag, in der sogenannten „Normalität“, nicht Sprache ist, wo wir nicht einfach zugreifen können, was wir nicht anlangen können, wie man so schön sagt, aber was dennoch uns belangt, also zu uns herüberreicht, in Sprache ausdrücken kann. Hinüberfischen, herüberziehen, herübertauchen – immer an der schwammigen, feinen Grenze arbeiten zwischen Sprachhaftigkeit, Sprachmöglichkeit, Sprachlosigkeit. Die Sieben Sprüngegehen in jedem ihrer Kapitel auf eine andere Art und Weise an diesen Rändern entlang, und jede Figur wird mindestens einmal über die Grenze gestoßen. Sie muss von der Welt springen, die ihr vertraut ist, und fällt in körperliche Sprachlosigkeit oder in Erinnerungen, die zwar als Bilder gesehen werden, aber  nicht ausgesprochen werden können, weil sie zu schmerzlich sind. Die mittlere Generation, also die Kinder der Flüchtlinge, fühlt sich verfolgt von Erinnerungen, die nicht die eigenen sind. Auch darin drückt sich etwas Sprachloses aus. Ursprünglich gab es in dem Roman ein Kapitel, in dem zwei Affen sprachen. Ich nahm es heraus, weil mir deutlich wurde, dass ich die Sprachgrenze zwischen Tier und Mensch auf andere Weise zeigen musste. Aber auf der Website www.der-siebte-sprung.dekann man dieses Kapitel nachlesen, die Seite zeigt verschiedene Aspekte des Schreibweges. Die zehn Jahre Arbeit an dem Roman waren ein kontinuierlicher Prozess um Sprache. So könnten wir eigentlich auch dieses Interview nennen (lacht): Prozess um Sprache.

BB: Es gibt im Roman eine Figur, die dieses Thema des Prozesses verkörpert, nämlich die Figur des Boris, dem Psychologen, der diesen Prozess auch reflektiert. Er interessiert sich für die Generation der zwischen 1927 und 1940 Geborenen und erforscht das Altern und die psychischen und seelischen Innenlandschaften dieser Generation. Wie ist diese Figur zu verstehen? Es gibt nämlich eine Parallele zwischen Ihrem Unterfangen und dieser Figur. Ist es eine Möglichkeit, diesen schwierigen Prozess leichter aufzufassen oder gibt es auch einen Aspekt der Verfremdung?

UD:Boris interessiert sich für die Generation der Kriegskinder. Er ist Psychologe und arbeitet mit Kriegskindern und ihren Nachfahren, um ihnen dabei zu helfen, mit nicht-sprechbaren Erinnerungen umzugehen. Er hat Techniken dafür entwickelt, die ich als Autorin mit ihm lernte, um Halbvergessenes, das sich in Träumen, Ängsten, Stockungen und Zwängen durch die Leben der Betroffenen zwängt, in Bewusstsein und Sprache zu heben. Insofern ist er eine Art Spiegelfigur der Funktion „Autor“, zugleich ist er jemand vollkommen anderes: eine männliche Figur gemischt polnisch-deutscher Herkunft, Vater einer Tochter, geschiedener Ehemann, Freund etc. Womit wir einen zweiten Bereich des Romans berühren, in dem eine Parallelbewegung zu dem Thema Vergessen und Erinnerung stattfindet. Im Zusammenhang damit sprachen wir eben über Doppelpoligkeit, nicht hier das Erinnern, dort das Vergessen und eine scharfe Trennung zwischen beidem. Dies gilt analog für die „deutschen“ bzw. „polnischen“ Figuren des Romans. Tritt man näher an sie heran, erkennt man, wie diese Zuordnungen Raster über Leben stülpen, die von der Wirklichkeit dieser Leben nicht gedeckt sind. Die deutschen Grolmanns sind nach Jahrhunderten Familiengeschichte in einem multikulturellen Raum genannt Schlesien viel weniger deutsch oder gar reindeutsch als sie aussehen. Gleiches gilt für die polnische Familie, die in der Generation vor Boris aus Ostpolen kam, das inzwischen zur Ukraine gehört. Boris hat zudem, wie der Roman andeutet, einen deutsch-schlesischen Vater. Seine ostpolnische Mutter mit multikulturellen Wurzeln und Muttersprache Ukrainisch lebte seit dem Sommer 1945 in Breslau, das die Grolmanns im Januar 1945 verlassen hatten. Boris beherrscht beide Sprachen, er hat nach Deutschland geheiratet und seinen Namen von Nienaltowski zu Nienalt verändert, weil seine Kunden damit besser zurechtkommen. Er ist auf ganz andere Art und Weise als ich ein Grenzgänger und jemand, der mit professionellem Blick, also auch mit einem Begriffsapparat, auf Kriegskinder und ihre Nachfahren schaut, und er ist die Figur, die diesen Begriffsapparat in den Roman trägt und ihn dort in Bewegung versetzt. Es stellt sich ja immer die Frage, gerade wenn man einen historischen Roman schreibt, wie man das, was wir Fakten nennen sowie die Begrifflichkeiten, die Geschichtsschreibung, Psychologie oder Philosophie entwickelt haben, in einen Roman verwandelt, also narrativ umsetzt. Ich empfinde dies als ein Verflüssigen: Wie wird etwas zu einer Figur? Boris ist spannend, weil er immer wieder versucht, Probleme denkend zu durchdringen, was er für seine Patienten gut kann, während er bei sich selbst sehr viel blinder ist.  Er ist selbst von der Geschichte der Zwangsmigrationen betroffen und ist sich selbst gegenüber, wie wir alle, sehr viel blinder als bei anderen. Bei Simone Grolmann, der Figur, die den Roman eröffnet und von der Biografie her meine Spiegelfigur ist, wir teilen das Geburtsjahr und einige Aspekte der Familienkonstellation, liegt dieser blinde Fleck in ihrem Verhältnis zu ihrem Vater.

BB: À propos Spiegelfigur würde ich gerne hören, wie Sie zum „Autobiographischen“ in diesem Roman stehen. Es gibt nämlich dieses Datum des 20. Januar; es ist im Roman nicht nur der Tag von Lenz’ Reise, am 20. Jänner, in Büchners Text (der auch viel mit Schnee zu tun hat und den Anfang einer Reise Richtung Osten erzählt!), es ist nicht nur dieses wichtige Datum für Celan (Wannseekonferenz); sondern es ist im Roman sowohl die Flucht aus Polen in der Nacht vom 19. zum 20.1. 1945 und 17 Jahre später der Tag, an dem die Protagonistin Simone Grolman geboren wurde, der 20.1.62, der auch Ihr Geburtsdatum ist. Wie soll man diesen Hinweis verstehen: ist er wichtig? Ironisch? Irrelevant?

Welches ist der Anteil an Persönlichem, Privatem, Intimem in einem solchen Text? Oder ist dies eine indiskrete Frage?

UD:Es ist, wenn man so möchte, ein Spiel. Mit Augenzwinkern. Ich erwähne diesen Geburtstag, um die Identität oder Nichtidentität Simones, der Affenforscherin, mit mir, der „Menschenforscherin“, zum Thema zu machen, auch weil der Roman in Teilen um die Frage nach dem Unterschied zwischen Menschenaffen und Menschen kreist. Darüber hinaus ist das Datum Teil eines Zeichennetzes, das sich über den gesamten Roman zieht und stets mit sogenannten Elementen aus der Wirklichkeit umgeht, Namen und Daten zum Beispiel. Des Weiteren gehört es zu einem Netz von literarischen, durch den Roman gewobenen Anspielungen. Büchners Lenz, der Schnee, die Wannseekonferenz, Celan schwingen im Resonanzboden des Textes. Die Themen Judentum, Holocaust, Verfolgung der Juden, Konzentrationslager werden nicht „am Stück“ „behandelt“ – schon dieses Wort scheint mir grausam und völlig falsch – sind aber im Gewebe des Textes präsent, der nicht zufällig schon im Prolog mit einem Kafkazitat endet. So ist der 20. Januar Teil der Reflexion des Romans darüber, was es heißen kann, einen historischen Roman zu schreiben. Der Begriff ‚historischer Roman‘ impliziert so, wie er traditionell gebraucht wird, dass es sich hierbei um Fiktion handelt, die sich auf Realität, auf Fakten, auf geschichtliche Tatsachen bezieht. Nun wissen wir, dass diese geschichtlichen Tatsachen so tatsächlich nicht sind, wie sie gern scheinen wollen. Wir begegnen Rekonstruktionen und Interpretationen. Daten dieser Art werden im Text gesetzt, um in Zweifel gezogen zu werden. Sie müssen interpretiert werden wie anderes auch; selbst Kalender sind subjektiv verschieblich. Damit taucht zugleich die Frage auf, die mich wirklich umtrieb beim Schreiben dieses Romans: Welches Verhältnis gibt es zwischen meinen blinden Flecken und der Geschichte, die ich erzähle? Welches Verhältnis entwickelt sich zwischen dem Stoff und meiner Biografie, also, wenn man so möchte, zwischen Kunst und Leben? Es war deutlich, dass ich diesen Text mit diesem Familienthema nur schreiben wollte und konnte, weil ich selbst betroffen war, aber ich fühlte mich von dieser Nähe und dem Biografismus darin auch eingeschränkt. Das Projekt entstand auf seltsame Weise zunächst gegen meinen Willen. Ich erinnere mich an einen Sommertag in meiner zweiten Berliner Wohnung, es muss also vor 2008 gewesen sein, als ich ein Stück ungeplanten Textes schrieb, 20 Seiten, in einem Rutsch. Eine über 50jährige Frau geht mit ihrem 14jährigen Sohn an einem heißen Tag im Juli 1945 durch ein Flusstal im Fünf-Seenland in Bayern. Beide sind Flüchtlinge, sie trägt einen Pelzmantel überm Arm, jeder konnte einen Koffer retten, seit sechs Monaten sind sie unterwegs. Ich wusste, dass es sich in der Szene um eine Situation aus dem Leben meiner Großmutter und meines Vaters handelt. Der ältere Sohn war auf der Flucht gestorben, so gingen sie hier nur mehr zu zweit; ich kannte das Tal, aber nicht gut, als Kind war ich einmal dort gewesen. Doch warum das auftauchte? Ich weiß es nicht. Die Stimme, die sprach, gehörte nicht meiner Großmutter, sie war beredter, agiler. Heute sind diese ersten Seiten der Anfang von Kapitel 4 im Roman. Ich schrieb und wunderte mich, eine Erzählung war, was entstand, nicht, es schwang epischer, und ich versteckte die Datei erst einmal in den Tiefen der Festplatte. Das Thema „Flucht und Vertreibung“ hing der biografischen Ulrike Draesner zum Hals heraus, es hatte meine Kindheit und Jugend geprägt. Gnadenlos wurden dieselben Anekdoten wieder und wieder erzählt, jeder spürte, dass sie Schein waren, wahre Lügen sozusagen. Heute ist mir klar, dass es sich dabei um Spuren von Traumatisierungen handelte. Ich versuchte, die Nicht-Großmutter-Seiten zu vergessen, was aber nicht gelang. Es dauerte dann noch ein paar Jahre, bis ich endgültig einsah, dass ich diesen Roman schreiben musste.

Damit tauchte ein weiteres Problem auf. Der Roman erzählt in Teilen die Lebensgeschichte meines Vaters. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Warten? Oder beginnen und meinen Vater einweihen? Ich entschied mich für letzteres und konnte auch dann erst schreiben, indem ich die Figuren, zum Beispiel Eustachius Grolmann, seine Spiegelfigur, ein beträchtliches Stück von ihm wegschob, aber dieses Wegschieben selbst in den Roman aufnahm. So sind wir wieder bei Namen und Daten als Spuren von Verschiebungen. Ein Datum, integriert in Fiktion, wird Funktion. Eustachius Grolmann heißt Eustachius, weil mein Vater Hubertus heißt. Hubertus ist der Patron der Jagd, ebenso Eustachius. Durch den gesamten Roman ziehen sich diese Spuren des Transfers und damit auch der Verfälschung.

BB: Recherche und Erfindung bilden ein interessantes Begriffspaar: in Zauber im Zoo schreiben Sie zur Frage „Wie übersetzt sich historischer Stoff in Fiktion?“ Folgendes: „Das Recherchieren, das ja bereits Fiktion ist (Auswahl, Bericht, Konstruktion einer Geschichte) muss über-erfundenwerden in Atmosphäre und inneres Verstehen. Gedächtnis und Wahrnehmung, Zeugenschaft und das Zielen auf Wirklichkeiten rücken – uns – in den Blick.“ (S. 10). Könnten Sie bitte diesen Begriff des „Über-Erfindens“ kommentieren?

UD:Schön, dass Sie mich an dieses Wort erinnern. Es ist eigentlich doch ganz nützlich, denke ich gerade selbst (lacht). Zum einen ist das „über“ genommen aus der Vorstellung, etwas in einen anderen Raum übersetzend hinüber-zu-erfinden, also auch, übersetzend mit einem Boot, von dem einen Flussufer zum anderen zu gelangen. Es muss wirklich in die fiktive Welt verwandelt werden. Setze ich das Datum 20. Januar in den Text, sieht es aus wie jedes andere Datum „20. Januar“, kommt aber eigentlich im Text erst an, wenn es beginnt, sich dort mit anderen Dingen zu vernetzen. Dann tritt ein Übersetzen bzw. Hinübererfinden ein, das, zweite Bedeutung, Verdichtung bedeutet. Hier meint „über“, den Raum zu füllen, ja geradezu zu überfüllen. Auch das ist Teil des Schreibens von Fiktion. Zugleich schwingt in diesem „über“ etwas mit wie in übermalen, also arbeiten in vielen Schichten. Übererfinden heißt erfinden und immer noch einmal darübergehen, so dass Resonanztiefe, Blicktiefe, Perspektivtiefe und Sprachtiefe im Text entstehen. Das ist zumindest meine Arbeitsweise. Ein Roman hat am Ende eine größere Zahl von Manuskriptstufen durchlaufen, bis das Gewebe mit all den Verbindungen der einzelnen Motive, also zum Beispiel: Wo kommen Vögel vor, hergstellt ist.

BB: Sie sind auch die Autorin von zahlreichen essayistischen Texten und von Poetikvorlesungen; darunter vieler Texte, in denen Sie sich mit anderen Autoren befassen, sozusagen Ihren privaten Kanon darstellen (Schöne Frauen lesen und Heimliche Helden). Ich möchte wissen, ob auch bei diesem Eintauchen in das „kollektive Gedächtnis“ andere AutorInnen „Pate/Patin“ stehen?

UD:Auf jeden Fall. Ich möchte dabei den engeren Textbegriff um Bilder, Musik und Film erweitern. Und selbstverständlich auch um etwas wie „Sachtexte“, die stets Erfindungen enthalten, so wie primär „literarische“ Texte Lebensbeobachtungen und Lebenwirklichkeit umfassen. Zu den Recherchen etwa in Polen gehörte für mich gleichermaßen die Suche nach Zeugenberichten, nach Fotos, nach Tagebucheinträgen, nach Filmen und danach, wie polnische Autoren historisch über das deutsche oder das polnische Breslau-Wrocław schreiben. All dies sind für mich Textfelder der Inspiration, und es war wichtig, diese Felder und die Stimmen Franz Kafkas, Zeruya Shalevs u.a. in dieses Buch zu integrieren, weil mein eigener Text damit seinen hybriden Status zwischen Historien, verschiedenen Kulturen und verschiedensten Arten von Fiktion ausbaut und in die Welt hinein öffnet, in der wir als unserer Wirklichkeit leben. In dieser Welt spielt ebenfalls all dies eine Rolle und wird ganz gewiss nicht sauber unterschieden. Die Bezugnahme auf sogenannt „Nichtwirkliches“ ist für mich exakter und notwendiger Teil eines mimetischen Prozesses, wenn es darum geht, Innenwelt abzubilden. Der Unterschied zwischen fiktivem und recherchiertem Text wird gemacht und verwischt, angedeutet und von den Figuren diskutiert. Das ist Teil der Lebenserfahrung und der Orientierung in einer Welt, die für die Figuren im Roman völlig zerstört wird, und nur durch Projektionen, die sich mit Hilfe anderer Texte vollziehen, wiedererobert und neubezogen werden kann.

BB: Romane über die Familiengeschichte „unter dem Eisernen Vorhang“ sind ja in den letzten Jahren auffallend zahlreich geworden; ich denke an Natascha Wodin, Katja Petrowskaja, Maja Haderlaps Engel des Vergessens. Die Autorin Yoko Tawada schrieb ironisch in einem Buch aus dem Jahr 2000 (Opium für Ovid), sie habe nicht vor, über ihren Großvater zu schreiben. Welchen Platz nimmt in Ihren Augen Ihre Arbeit in diesem Zusammenhang, in dieser Flut von Neuerscheinungen ein?

UD:Die Liste derartiger Romane ist tatsächlich lang, und für eine Zeit sprach man von „Großvaterliteratur“: ein Enkelkind erzählt die Geschichte des Großvaters oder der Großmutter. Allerdings droht man dabei dem psychologisch leicht nachvollziehbaren Wunsch auf den Leim zu gehen, das Leben der eigenen Vorfahren in ein etwas besseres Licht zu rücken. In diese Falle wollte ich nicht tappen; zudem war mir der Ansatz zu eng. All diese Romane sind Familienromane, das gilt auch für die Sieben Sprünge, doch dieser Roman sprengt zugleich den Begriff der „Familie“. Und jenen der Nation. Ich halte es für verfehlt, einen Roman, der von den Folgen des Zweiten Weltkrieges und von Zwangsmigration handelt, weiterhin national anzulegen. Genau dies geschieht in der deutschsprachigen Literatur aber vorwiegend. Mein Roman erzählt daher nicht die Geschichte einer deutschen, sondern einer deutschen und einer polnischen Familie. Er zeigt, was wir mit vielen unserer östlichen Nachbarn teilen. Zwangsmigration wirkt nicht „national“, sondern verletzt einzelne Menschen mitsamt ihren Familien in ihrem Lebenslauf, zum Teil über Generationen hinweg. Auch durch das begriffliche Unterfutter des Textes und die Recherchen, gerade im psychologischen Bereich, sowie durch die Vielfalt der Stimmen, die gezielt in die Gegenwart reichen, die jüngste Figur ist Anfang 20, eröffnen sich in den Sieben Sprüngennoch einmal ganz andere, sehr viel globalere Fragen als im „klassischen“ Familienroman.

DieSieben Sprüngesind ein zeitgenössischerhistorischer Roman. Es geht darum, unsere Gegenwart schärfer in den Blick zu nehmen, Dinge mit dem Blick auf die Vergangenheit zu verstehen. Ich glaube nicht unbedingt, dass Menschen aus Geschichte sonderlich viel lernen können oder wollen, aber man kann seine Wahrnehmung an ihr schärfen. Während der Recherchen und noch einmal in der Rezeption des Romans wurde deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten in der Flüchtlingsfrage heute in Deutschland und unserem Umgang mit den Fluchterfahrungen im kollektiven Gedächtnis gibt. Geht man einmal nur von den etwa 12 Millionen Flüchtlingen aus, die nach 1945 in Westdeutschland ankamen, hauptsächlich Frauen und Kinder, und legt die Zahl auf die heutige Bevölkerung um, kommt man darauf, dass etwa 80 % aller heutigen Deutschen eine Fluchtgeschichte in ihrer Familiengeschichte haben. Häufig betrifft das beide Seiten der Flucht, auch in meiner Herkunftsfamilie ist das so: da gab es jene, die ankamen und damit zu tun hatten, ihr „Flüchtigsein“ und ihren Verlust zu verarbeiten und eine neue Existenz aufzubauen, und jene, die bereits da waren und lernen mussten, mit all diesen fremden Menschen zurechtzukommen und mit ihnen zu teilen. Hier herrschen noch immer Spannungen und beider Gedächtnis wurde eigentlich weggedrückt. Solange wir das nicht ändern, werden wir nicht sonderlich gut dazu in der Lage sein, mit diesen wieder im Raum stehenden Fragen umzugehen: Wie nimmt man Fremde bei sich auf? Welche zielführenden und konstruktiven Forderungen dürfen die Seiten aneinander stellen? Was ist notwendig, auch im Wortsinn von Not-wendend, zu verstehen? Die Menschen, die in Europa eintreffen, sind traumatisiert oder zumindest seelisch verletzt. Sie haben etwas verloren, sie haben Sorgen, sie haben Angehörige und Freunde zurückgelassen. Hinzu kommen sprachliche Schwierigkeiten und religiöse Distanzen. Aber wenn jene, die hier sind, lernen, besser zu verstehen, wie Traumatisierung sich äußert und wie Verletzungs- und Fremdheitserfahrungen durch ihre eigenen Familiengeschichten geistern, werden wir mit unserer Gegenwart besser umgehen können.

BB: Sie haben Ihren Roman als zeitgenössischen historischen Roman bezeichnet. Gedächtnis und „kommunikatives Gedächtnis“ werden seit ein paar Jahren in der akademischen Welt sehr stark diskutiert; die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann sind sehr anregend und, speziell für unser heutiges Gespräch, Aleida Assmanns Aufsatz „Wem gehört eine Geschichte?Fakten und Fiktionen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur“ (2010/2011); ihre These ist, dass eine neue Gattung entstanden ist, und dies macht sie unter anderem an Marcel Beyers Kaltenburgfest, nämlich die Gattung eines Romans, der seinen Beitrag leistet, sodass die Geschichte im Roman nicht den Historikern gehört, sondern auch ein Teil der Literatur ist, in der es inzwischen andere Felder gibt, wie etwa Traumata und Emotionen, welche die Historiker nicht behandeln. Dies liegt eben vielleicht an der Zeitlichkeit von Gedächtnis, ein Gedächtnis, das eben erst nach einer gewissen Zeit aufgefangen, erzählt und rezipiert werden kann. Wie sehen Sie die zeitversetzten Texte? Man sagt oft, dass zu dieser Zeit niemand gesprochen und geschrieben hat, man braucht vielleicht eine Generation, bis ein solcher Text entstehen kann.

UD:Der historische Roman, der sich selbst als historisches Dokument (teil)wahrnimmt und damit spielt, ist sicher nicht erst um das Jahr 2000 entstanden, sondern begegnet uns schon etwa in der Frühen Neuzeit oder im Barock. Spannender als den literaturgeschichtlichen Einordnungsversuch finde ich die implizierte Frage nach der Zeitlichkeit von Sprechbarkeit. Sprechbarkeit ist offensichtlich kein gegebenes Faktum, sondern etwas, woran man arbeitet, worum man kämpft. Sie ist nicht zeitimmun, sondern zeitabhängig. Was auch bedeutet: In Schüben oder Phasen lassen sich die Grenzen der Möglichkeit von Sprache erweitern. Ein Thema wie „Zwangsmigration nach dem zweiten Weltkrieg und deren Folgen“ entsteht logischerweise erst, wenn zwei oder drei Generationen nach der unmittelbaren Flüchtlingsgeneration das Licht der verschobenen Welt erblickt haben. Die Frage, ob oder wie Traumatisierung auch intergenerationell weitergegeben wird, ist vergleichsweise neu, sie entwickelte sich vor gut 20 Jahren mit Blick auf Holocaustopfer, als sich die Symptomatiken abzeichneten und der Fragenkomplex sichtbar wurde. Es gibt eine Weitergabe von Ängsten und Schmerzen zwischen den Generationen, die bis in körperliche Phänomene reichen. Wie genau sie zustandekommt, weiß man nicht. In der Psycholgie wird zu diesem Fragenkomplex geforscht, die Übertragung vollzieht sich sprachlich, aber nicht nur.

Hinzu kommt wie bei allen Fragen, die in den 2. Weltkrieg zurückreichen, die politische Lage der Nachkriegsjahre mit den Aufbrüchen des Jahres 1989. Ich habe für die Sieben Sprünge verschiedenste polnische Dokumente benutzt und mit fünf polnischen Zeitzeugen sehr lange über ihre Erfahrungen der Zwangsmigration, den Sommer 1945 in Wrocław und ihr Leben in Polen gesprochen. Die Dokumente hätte es zu größeren Teilen vor 1989 offiziell nicht gegeben oder sie wären zumindest für mich nicht zugänglich gewesen. Der Roman beruht auf historischen Forschungen, die erst nach 1989 durchführbar wurden, weil die Archive sich öffneten.

Und noch etwas wirkt ein: Die Generation der Kriegskinder, die hier als Gedächtnisträger im Mittelpunkt steht, also jene Generation, die als Jugendliche Zwangsvertreibung erlebt hat und dann ihr Leben lang damit umgehen musste, zählt heute zwischen 80 und 95 Jahren. Mit zunehmendem Alter ordnet unser Gedächtnis sich noch einmal um, was unter anderem dazu führt, dass Erinnerungen aus der Kindheit wieder stärker hervortreten. Das ist allgemein bekannt, bedeutet für die Kriegskindergeneration aber etwas Spezifisches, denn zugleich scheint es so zu sein, dass die Abwehrmechanismen gegen schlimme Erinnerungen ebenfalls schwächer werden, so dass die alten Menschen jetzt doch noch von ihren Erinnerungen überrollt werden. So beginnen sie manchmal in ihren letzten Jahren oder Monaten davon zu sprechen, was sie 60 oder 70 Jahre lang erfolgreich unterdrückten, nun aber nicht mehr „halten“, auch nicht mehr aushalten können. Auch so erklärt sich, dass jetzt oder erst jetzt die Zeit gekommen ist, diese Geschichten zu hören. Womit noch einmal sichtbar wird, wie zeitabhängig das eigene Schreiben ist. Das ist es vermutlich immer, da man einen Text, wie man ihn vor zehn Jahren schrieb, nie wieder so schreiben könnte, doch gilt die Zeitgebundenheit für das, was sich „historischer Roman“ nennt, in gesteigertem Maß. Auch damit muss man umgehen.

BB:Ist es diese Erfahrung des Schreibens bzw. des Hörens oder Sprechens, die zur traumatischen Erfahrung werden kann? Das Erzählen an sich kann traumatisierend sein und Boris im Roman nennt sich selber einen „Höllenführer“.

UD:Mit diesem Namen bezeichnet er die Ambivalenz seines Vorgehens. Ich spürte in Bezug auf meinen Vater ab einem gewissen Stadium sehr deutlich, dass ich nicht mehr weiterfragen sollte. Meine Recherchen hatten mir an einigen Stellen gezeigt, warum mein Vater zum Beispiel immer wieder bestimmte Anekdoten erzählte – mit Stockungen, Auslassungen und Abbrüchen, warum es keine Enden gab. Manche betreffen seinen Bruder, eine Figur, die als Emil in den Roman übersetzt, dessen geheimes Herz wurde. Man weiß nicht genau, was mit ihm passiert, jede Figur erzählt eine andere Geschichte davon, was ihm zugestoßen sein mag. Dieser Emil wäre, als der reale Bruder meines Vaters, aufgrund einer körperlichen und wohl auch geistigen Behinderung unter die Euthanasie-Gesetze der Nationalsozialisten gefallen. Allein schon diese Tatsache wurde in der Familie meines Vaters nie so ausgesprochen. Es hieß, dass er einen Klumpfuß hatte und nicht richtig lernte, und „irgendwie“ war dieser Sohn auch nicht in der Schule. Der Rest bestand aus Schweigen. Die Recherche machte mir deutlich, dass es eigentlich ein Wunder war, dass meine Großmutter noch mit beiden Söhnen auf die Flucht ging im Januar 1945. Der ältere, damals bereits 23 Jahre alt, lebte also noch. Wie kam das? Was hatten meine Großeltern „unternommen“? Was bedeuteten diese Stückchen-Sätze, die also nur aussahen wie ganze Sätze, etwa wenn mein Vater sagte: „Der ging gar nicht zur Schule.“ Und auf weitere Nachfrage: „Der wurde zuhause unterrichtet.“ Weil er versteckt wurde? Erneut fragte ich meinen Vater, erklärte auch, was ich gefunden hatte: „Wie haben deine Eltern das gemacht mit deinem Bruder?“ Da schaute er mich, unerstaunt, an und sagte: „Weißt du, das frage ich mich auch immer wieder, und ich ärgere mich, dass ich sie nie darauf angesprochen habe.“

In diesem Moment wurde mir etwas klar. Zum einen, mein Vater erzählt uns seine Anekdötchen, doch er hat ganz andere Fragen, die erwähnt er nie. Da hatte ich ihn sozusagen an einer getroffen, er guckte mich groß und ehrlich an und ich guckte zurück und sah, dass mein Vater bis heute unter dem Frageverbot meiner Großeltern steht, das über ihn als Kind verhängt wurde. Er war zehn Jahre jünger als sein Bruder, er ging zur Schule, er war die gefährliche Stelle in der Familie, eingebunden in das Nazi-Jugendsystem. Das heißt, er durfte nichts wissen über diesen Bruder, möglichst nichts. Er durfte nicht fragen, bis heute hat er sich an das Verbot gehalten. Ich glaube nicht, dass ihm das bewusst ist. An diesem Punkt fragte ich nicht weiter, auch weil mir die Worte von Psychologen bzw. Gerentologen, mit denen ich gesprochen hatte, in den Ohren klangen. Sie meinten, dass man sehr aufpassen müsse, weil viele der alten Menschen von diesen Erinnerungen destabilisiert werden. Verdrängungsmechanismen brechen zusammen, und bei jenen, die sich erinnern müssen, entwickeln sich körperliche Gebrechen, die keine physische Grundlage haben, sondern „nur“ eine Erinnerungsgrundlage. Jemanden dann immer noch weiter in den Ofen der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu schieben, hat etwas Brutales und kann zu einer vollkommenen Überforderung führen. Da sollte es, denke ich, eine Schutzlinie geben im Realen. In der Fiktion hingegen öffnen sich diese Räume: das Erzählen vermag in Bereiche vorzudringen, die jenen, die leben, etwas zeigen, was sie angeht, ohne dass es unmittelbar ihr Eigenes sein muss. Wir funktionieren, verstehen und erleben über Spiegelungen.

BB: Es gibt zwei Themen in Ihrem Roman, oder eher zwei Stränge: einerseits die Geschichte von Flucht und Vertreibung; andererseits die Affenforschung, die zwei der Hauptfiguren betreiben: Simone, die erste Erzählerin, und ihr Vater. Die Verbindung der zwei Stränge ist wohl kein Zufall, wohl nicht „unverbindlich“.

UD:Ich kannte mich vor diesem Roman mit Affen nicht aus, die Verbindung war für mich selbst zunächst überraschend. Sie kommt von der Figur Eustachius Grolmann. Als ich Interviewbände mit der Kriegskindergeneration las, fiel mir auf, dass viele später einen Beruf ergriffen hatten, der relativ deutlich mit  Flucht- und Vertreibungserlebnissen verbindbar war. Sie arbeiteten im medizinischen Bereich oder wurden Ingenieure, also Menschenheiler und Wiederaufbauer. Ich sah Eustachius als Humanmediziner vor mir, merkte aber, als ich ihn da hineinschickte, dass er die Nähe zu Menschen, die dieser Beruf bedeutet, nicht aushielt. Er beschloss, Biologe bzw. Primatenforscher zu werden, weil ihn die Frage danach umtrieb, warum Menschen Menschen umbringen. An Affen konnte er dies am besten untersuchen. Aufgewachsen war er mit dem Mythos, kein Tier töte ein Tier seiner eigenen Gattung. Man kennt das berühmte Beispiel aus dem Wolfsrudel, wo der im Kampf Unterlegene die Kehle darbietet, so dass bei seinem Gegner eine Beißhemmung greift. Eustachius wollte wissen, warum dies bei Menschen anders ist. Als er bereits emeritiert war, wurde dokumentarisches Filmmaterial veröffentlicht, das zeigt, dass auch Schimpansen einander töten, sie veranstalten etwas wie „Kriegszüge“ und essen Teile des getöteten Gegners rituell. Die Funktion der Tiere in den Sieben Sprüngen, insbesondere der Affen, ist es, den Figuren einen Spiegel vorzuhalten und die Fragen nach Aggression und Erkenntnismöglichkeiten in den Roman zu tragen. Eine ernste Aufgabe für die Affen, die im Übrigen naturgemäß, nämlich Menschen-naturgemäß, für eine Menge Komik sorgen. Es gibt genug Elend und Gewalt im Text, man kann das aber nicht erzählen, auch nicht fühlen, wenn nicht eben auch die andere Seite leuchtet, eine heitere, einander zugewandte Seite. So werden auch Liebesgeschichten erzählt, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Hannes, Eustachius Vater, und seiner Frau, zwischen Esther, der jüngsten Figur, und ihrem Großvater. Ein ganzer Strauß verschiedenster Arten und Weisen, sich aufeinander zu beziehen, sich selbst zu fühlen als Mensch mit einem lachenden und einem weinenden Auge, und dabei durch die blutigen, komischen und grotesken Landschaften der politischen und der migratorischen Verschiebung geschoben zu werden, zu taumeln und manchmal selbst zu fliegen.

BB: Nun zu der Webseite Der siebte Sprung, die nach dem Erscheinen des Romans entstand. Mir fällt hier eine große Nähe zu den Ansprüchen von Memories at Stakeauf: es handelt sich nämlich darum, Brücken zu schlagen zwischen den verschiedenen, oft widersprüchlichen Gedächtnissen, auch zwischen Gesellschaft, Kunst und Kultur, und zwischen verschiedenen Akteuren. Könnten Sie uns erzählen, wie die Idee einer Webseite entstand?

UD:Die Website folgte nicht nach dem Roman und ist auch kein bloßer Annex. Dass es sie überhaupt geben würde, wurde mir im letzten Jahr des Schreibens an denSieben Sprüngendeutlich. Der Roman konnte und wollte nicht nur von Vertreibung handeln – auch er selbst musste vertrieben werden. Er heißt Sieben Sprünge vom Rand der Welt, im Roman selbst finden aber nur sechs dieser Sprünge statt. Sechs Vertriebene erzählen ihre Geschichte. Den siebten Sprung, die siebte Vertreibung, durchläuft der Roman als Gattung selbst. Er muss sein bequemes Druckbett des 19. Jahrhunderts verlassen und hinüberspringen ins Netz. Dabei verändert er sich. Auf der letzten Seite des Romans findet sich ein QR-Code, hält man ein entsprechendes digitales Gerät mit Internetverbindung darauf, springt man selbst. Der Roman ist, ich nehme die alte Metapher von Text als Gewebe auf, der Pullover von vorn. Die Website ist der gleiche Pullover, von links. Hier sieht man, wie die Fäden laufen, wo etwas abbricht, aufgenommen wird. Das eine existiert nicht ohne das andere. So erzählt die Website in sieben Kapiteln über die Entstehung des Romans, den Schreib- und Rechercheprozess, über Gefundenes und nicht Verwendetes, stellt Dokumente bereit und eröffnet im letzten Kapitel ein interaktives Moment, einen Blog, der dazu einlädt, sich für das Lexikon der reisenden Wörter, das sich auf der Site befindet, einen Eintrag zu wünschen bzw. selbst etwas aus dem Erfahrungsfeld Migration beizutragen. Der Blog ist ein letzter Kreisschluss, eine Öffnung in den kollektiven Raum, der auch beim Schreiben entscheidend war. Ich griff immer wieder auf eigene Erinnerungen zurück, nicht primär Daten und Fakten, sondern vor allem Atmosphären. Dabei spielte das Wohnzimmer meiner väterlichen Großeltern eine große Rolle, in dem es manchmal etwas wie „Flüchtlingstreffen“ gab, da alle neuen Freunde meiner Großeltern ebenfalls Flüchtlinge waren. War kein bayrischer Mensch in Hörweite, sprachen sie über ihre Herkunft, ihre Erfahrungen in der Gegenwart, sangen Lieder, aßen Streuselkuchen. Ich, als Kind, hörte oftmals zu, ein geheimnisvoller, unter der Wirklichkeit versteckter Raum wurde sichtbar, in dem ich pro Treffen ein Pfund zunahm, weil niemand darauf achtete, wie viel Streuselkuchen ich aß (lacht). Ich mochte auch den schlesischen Dialekt, den Singsang dieser Sprache, die Gerüche und, ja, die Wirklichkeit, die plötzlich erschien, jenseits der Anekdoten: da ging es um Zerstörung, um Reisen nach Polen, um Leben jetzt. Es war für mich entscheidend, mich beim Schreiben der älteren Figuren immer wieder auf diesen Raum zurückzubeziehen, ein immer halbdämmriges, leicht kühles Wohnzimmer im Hochparterre eines Mietshauses in München-Schwabing, ein kollektives Sprechen, ein Rauschen aus den 60er und 70er Jahren. Dieser Raum stand am Anfang meiner Arbeit, und das Ende des langen Ganges in Sprache, Erinnerung und Erfindung, den dieser Roman auch darstellt, bildet das siebte Kapitel auf der Website, indem ein kollektiver Sprechrahmen in der Form dieser Jahre entsteht.

BB: Es ist also gleichzeitig ein kollektives Projekt und ein Projekt für das Kollektiv; es geht, wie im Roman steht, um „geteiltes Gedächtnis. Ich meinte: aufgeteilt, unterteilt.“

UD:Es bildet ein Ganzes. Der vollständige Roman sind das Buch und die Webseite gemeinsam. Man kann beides getrennt von einander rezipieren, so wie man einen Pullover nur von einer Seite anschauen kann und alles ist gut. Aber dreht man ihn hin und her, verändert sich das Bild, es wird beweglicher, flüssiger, und gewinnt eine zusätzliche zeitliche Dimension.

BB:Man findet auf der Webseite die Dokumente und Bilder sowie die Geschichten, die die Menschen im Blog zu schreiben aufgefordert werden.

UD:Sie sind die Brücke aus dem fiktiven Raum zurück in das Jetzt der Benutzer, so wie der kollektive Sprechrahmen, also das Wohnzimmer in den 60er/70er Jahren in der zugewiesenen Wohnung in München die Brücke hinein in den fiktiven Raum war.

BB: Die hybride deutsch-plonische Geschichte im Roman wird durch das Netz, also durch die Verbindung zur Webseite, noch hybrider. Sind diese Geschichten eher aus dem osteuropäischen Raum erzählt?

UD:Die Geschichten, die auf der Webseite von anderen erzählt werden, betreffen in der Regel Migrationen aus ost- bzw. mitteleuropäischen Gebieten nach Deutschland, was nicht bedeutet, dass die mitgeteilten Erfahrungen nicht darüber hinaus reichten.

BB:Die Position, der Standpunkt bzw. der Platz, den die Vertriebenen durch die Vereine einnahmen, war in der öffentlichen Diskussion sehr stark. Diese Sprechbarkeit, die im Alter entsteht, glauben Sie, dass daraus auch ein Fortschritt entsteht in Bezug auf das Bewusstsein der Geschichte?

UD:Die Vertriebenenorganisationen waren ein Zeitphänomen. Ihe Positionen sind politisch überholt; ihre Mitglieder sterben weg. Wir sehen heute eine Bundesrepublik, die sich als essentiell europäisch versteht, auch als europäisch verantwortlich. Was nicht heißt, dass die Auseinandersetzung mit der ersten und zweiten Nachkriegsgeschichte und ihrem Umgang mit 1945 einfach oder unkontrovers wäre, wie man etwa an der Gründungsgeschichte der Bundesstiftung für Flucht, Vertreibung, Versöhnung ablesen kann, die ein Dokumentationszentrum zum Thema in Berlin entwickelt. Der Ansatz spiegelt etwas wieder, was sich auch in den Sieben Sprüngen ausdrückt: Fragen nach der Hybridität jeglicher Herkunft sowie nach der Schichtung von Identitätsbildung und Gedächtnis sind wesentlich dafür, um unser Leben besser zu begreifen und mit gegenwärtigen Situationen umzugehen. Dabei nur national zu denken, bedeutete eine extreme Selbstbeschneidung und Blindheit. Mit dem Blick auf das historische Mitteleuropa vor dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg, das für mich in meiner Recherche zu den Sieben Sprüngenals kräftiger, jahrhundertealter, multikultureller Raum lebendig wurde, verbindet sich auch eine Hoffnung. Zum ersten Mal verstand ich wirklich, welchen Verlust die Zerschlagung dieses Raumes bis in die Gegenwart bedeutet. Doch vielleicht haben wir nun, fast 100 Jahre nach dieser Zeit, die Möglichkeit, an damals Zerstörtes  anzuknüpfen, indem wir europäische Strukturen bilden und Grenzen nicht nur geopraphisch und wirtschaftlich öffnen. Es hat mich tief berührt zu sehen, wie viele Menschen in Polen und Deutschland, diesen beiden Ländern, die einander so lange so feindlich gegenüberstanden, in ihrer Familiengeschichte mit der Erfahrung von Zwangsmigration umgehen. Nichts soll hier über einen Kamm geschoren werden, schon gar nicht die unterschiedlichen Ursachen und Bedingungen dieser Migrationen. Dennoch stellen die Erfahrungen von Heimatverlust und Entwurzelung etwas dar, das man kollektiv teilt. Es könnte uns als Nachbarn miteinander  verbinden, wenn wir Sprache dafür finden und bereit sind, den Ambivalenzen des Fliehens und Ankommens für alle, die davon betroffen sind, ins Auge zu sehen.

[1]Ulrike Draesner war vom 14.2.-8.3.2018 im Rahmen des Programms „Écrivains en Sorbonne“ writer in residence an der Universität Sorbonne Université. Das Interview fand am 14.2.2018 statt.

Bernard Banoun ist Professor für neuere und neueste deutsche Literatur an der Universität Sorbonne Université.

[2]Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt, München, Luchterhand Literaturverlag, 2014.